Der Hörspaziergang erzählt von der »Gescheiterten Weltausstellung«, der Berliner Gewerbeausstellung von 1896. Die Hörer*Innen werden auf ihrem Weg über das Ausstellungsgelände zu Begleiter*Innen und Kompliz*Innen von drei Protagonist*Innen. Sie tauchen ein in das kulturelle Leben der heranwachsenden Industriemetropole Berlin und bekommen einen Einblick in die Lebenswelt und die Sorgen der Bewohner*Innen.Mit dem historischen Schauplatz der Erzählung, dem heutigen Treptower Park, erkundet der Audiowalk ein Kapitel der Berliner Geschichte, das in Vergessenheit geraten ist. Auf der Gewerbeausstellung konnten sich die Besucher*Innen in einer Zeit, in der es weder Kino, noch Massentourismus gab, dem bloßen Vergnügen hingeben und der Illusion, für einen Moment in die entlegensten Winkel der Welt zu reisen. Die auf der Gewerbeausstellungen stattfinde Kolonialausstellung, Völkerschauen, militärische Veranstaltungen und andere Attraktionen verraten uns heute etwas über die nationalistischen, imperialistischen und kolonialistischen Tendenzen des Deutschen Kaiserreiches. Das begehbare Hörspiel bringt Geschichte in die Gegenwart.
Dauer: 73 Minuten
Sprecher*Innen: Mareike Beykirch als Clara, Christoph Gawenda als Hans, Steffen Scheumann als Julius, Caroline Böttcher: Einleitung und Kommentar
Konzept, Buch, Regie, Dramaturgie und Schnitt: Caroline Böttcher
Dramaturgische Beratung: Jacob Hauptmann
Ton: Insa Schwartz und Jacob Hauptmann
Hörprobe
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Die Geschichte der Berliner Gewerbeausstellung von 1896
Mit der Gewerbeausstellung von 1896 erkundet der Audiowalk ein Kapitel der Berliner Geschichte, das in Vergessenheit geraten ist. Außer der Archenhold-Sternwarte weist heute nichts mehr darauf hin, dass im Treptower Park eine Ausstellung stattfand, die durchaus Ähnlichkeiten mit einer Weltausstellung hatte, obwohl es lediglich eine lokale Leistungsschau war: Die junge Reichshauptstadt Berlin sollte auf der Ausstellung als Industriemetropole und Weltstadt gezeigt werden. Amüsement, neuste Errungenschaften aus Wissenschaft, Industrie und Handwerk waren dort mit der Werbung für koloniale und politische Interessen vereint. Dabei zeichneten sich deutlich nationalistische und imperialistische Tendenzen ab.
Berlin war zu jener Zeit eine rasant wachsende Industriemetropole. Innerhalb von 13 Jahren hatte sich die Zahl der Großbetriebe verdoppelt. Die harten Arbeitsverhältnisse und Produktionsbedingungen wurden auf der Ausstellung zum großen Teil nicht thematisiert, die Besucher*innen sollten sich vielmehr der Illusion und dem Vergnügen hingeben. In einer Zeit, in der es weder Kino, noch Massentourismus gab, konnten die Besucher*innen für einen Moment in die entlegensten Winkel der Welt reisen. So wurden zum Beispiel die Cheops-Pyramide und eine Alpenlandschaft nachgebaut und eine Völkerschau inszeniert mit Dörfern, die denen aus den damaligen deutschen Kolonien nachempfunden waren.
Der Kiefernbaum und die Palme
Ein Kiefernbaum steht einsam / Bei Treptow am Strand der Spree.
Ihn schläfert, denn Interessantes / Gibt’s nicht in seiner Näh‘.
Er träumt von einer Palme, /Der es ganz ähnlich geht,
Nur daß sie beim fernen Kairo / Im Wüstensande steht.
Da kommen Männer mit Gerten / Und plötzlich geht es klipp, klapp!
Sie schlagen dem Kiefernbaume / Die sämmtlichen Zweige ab.
Getrocknete Palmenwedel, / Die binden sie ihm aufs Haupt,
Nachdem sie all seiner Zweige / So grausam ihn beraubt.
Um seinen Stamm dann wickeln / Sie Binden wundersam
Und färben sie, daß es aussieht / Als wär‘ es ein Palmenstamm.
Nicht mehr von Palmen zu träumen / Braucht jetzt der Kiefernbaum,
Er selber ward zu der Palme, / Die er gesehen im Traum.
Zur Palme ist er geworden, / Die einst seiner Sehnsucht Ziel,
Und Treptow wurde zu Kairo, / Es wurde die Spree zum Nil.
Nun bei sich selber denkt er, / Halb schaudernd und halb beglückt:
Entweder geschah ein Wunder, / Oder ich bin verrückt.
Gedicht aus: Schultze und Müller auf der
Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. Berlin 1896. S. 88f.
Ein kritischer Kommentar zu der Sprache im Audiowalk
Einen Teil der Gewerbeausstellung machten die Völkerschauen aus, die wie alle anderen dieser Art lediglich dazu diente, die Ideen und das Weltbild der Kolonisatoren zu belegen. Das rassistische Denken war damals in der Sprache sowie in der Gesellschaft stark verankert und wurde durch Völkerschauen, immer wieder bestätigt. Auf der Berliner Gewerbeausstellung wurden in den „Eingeborenendörfern“ 106 „Darsteller“ dem Publikum vorgeführt. Die Männer, Frauen und Kinder kamen aus den ehemals deutschen Kolonien Togo, Kamerun, Neu-Guinea, Deutsch-Ost-Afrika und Deutsch-Südwestafrika. Die zu Statisteninnen degradierten mussten Tätigkeiten ausüben, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatten. Während der Ausstellung wurden sie außerdem zum Forschungsgegenstand des Ethnologen Felix von Luschan, als er an ihnen Körper- und Schädelvermessungen vornahm. Die Völkerschau wurde als Kontrastbild zum angeblich zivilisierten und fortschrittlichen Westeuropa inszeniert. Auch die Sonderausstellung „Kairo“ sollte einen Gegensatz zu dem auf der Ausstellung präsentierten, technischen Fortschritt zeigen. Auf diesem Weg wurde eine Vorstellung europäischer Überlegenheit produziert und manifestiert. Mit Begriffen wie „Schutzbefohlene“ oder „Eingeborene“ oder dem N-Wort, bedienen sich Hans, Julius, Clara und die Besucherinnen der Kolonialausstellung einer von West-Europäern eingeführten, rassistischen Sprache. So stellt zum Beispiel der Begriff „Schutzbefohlene“ die Kolonisierten als hilfsbedürftige Menschen dar, die des „Schutzes“ der deutschen Kolonialherren bedürfen und verschleiert die gewalttätige Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen.
Von den Völkerschauen ist heute im Treptower Park nichts mehr zu sehen. Aber die Kolonialgeschichte hat ihre Spuren in den Köpfen und auch im Berliner Stadtbild hinterlassen. Sie treten beispielhaft zutage in den Debatten um ethnologische Sammlungen oder um Straßennamen, die noch immer Kolonialherren ehren.
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